Geschlecht als bestimmendes Element unseres Alltags und unserer Selbstwahrnehmung ist überall. Von dem Moment an, in dem eine werdende Mutter ganz selbstverständlich nach dem Geschlecht ihres Kindes gefragt wird, beeinflußt ihre Antwort, was für das Kind in Zukunft als “normales” Verhalten und Selbstbild gelten wird.
Gender – also insbesondere die sozialen Konventionen, die damit verbunden sind, einem bestimmten Geschlecht anzugehören – wird damit zu einer der grundsätzlichsten Achsen der Differenzierung zwischen Menschen in unserer Gesellschaft. Wir verwenden sie im Alltag ständig, um unsere*n Gegenüber oder uns selbst in unsere Umwelt einzuordnen – egal ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Nicht nur die Ergebnisse der Gender Studies zeigen jedoch, dass bei jeder Form der Differenzierung auch Hierarchien und Ausgrenzungen entstehen. So wächst beispielsweise jedes Kind in unserer Gesellschaft mit der Frage auf, ob sie “ein richtiges Mädchen” oder er “ein richtiger Junge” sei. Insbesondere im Bildungsalltag sind hiermit essentielle Fragen der Zugehörigkeit verbunden, die nicht nur im Jugendalter stark identitätsstiftend sein können. Verbunden ist mit der Zuordnung zu einem Geschlecht somit auch ein ständiger Bewertungsprozess, der sich in der Regel durch das ganze Leben fortsetzt und für viele erst ins Bewusstsein tritt, wenn er auf Irritationen trifft – wenn etwas eben nicht dem “normalen” Bild von Mädchen oder Jungen entspricht.
Ziele
- Sensbilisierung für den alltäglichen Einfluss der Kategorie Geschlecht als sozialer Platzanweiser und Strukturkategorie
- Sensibilisierung für eigene internalisierte Denkmuster und Vorurteile
- Sichtbarmachung der Vielfalt nicht-normativer Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen und Sensibilisierung für deren Lebenserfahrungen
- Offenlegung von Diskriminierungsmechanismen und den unterliegenden Machtstrukturen
- Strategien zu Prävention und Umgang mit Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und sexueller Orientierung erarbeiten
- Toleranz und Respekt für die Vielfalt von Lebensentwürfen vermitteln
- Multiplikator*innen ausbilden
Gender als Kategorie in Bildung und Erziehung

Egal ob in der Schule, in der Kita, im Jugendclub, im Sportverein oder an der Universität – an jedem Ort, an dem Wissen vermittelt wird, werden gleichzeitig auch Geschlechternormen reproduziert – egal ob man dies beabsichtigt oder nicht. Ein sensibler Umgang mit Zuschreibungen von Geschlecht und damit scheinbar verknüpften Verhaltensweisen oder Fähigkeiten ist damit essentiell für eine Bildung, die Menschen aller Altersstufen gleiche Chancen ermöglichen und zu einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung beitragen möchte.
Während beispielsweise im Hessischen Schulgesetz von 2017 eindeutig auf den individuellen Erziehungs- und Bildungsauftrag jeder Lehrkraft in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit verwiesen wird (siehe § 2, 3 und 7), sind gendersensible Bildung und Erziehung bisher jedoch kaum Teil der Aus- und Weiterbildung von Lehr- und pädagogischen Fachkräften. Die verlangten “Genderkompetenzen” bleiben meist obskur und enden nicht selten in einer Dramatisierung von wahrgenommenen Geschlechterunterschieden, die diese eher untermauern als aufbrechen. “Schwuchtel” und “Schlampe” sind weiter gängige Schimpfwörter auf Schulhöfen, für die Erfüllung bestimmter Aufgaben wird nach “starken Jungs” und “ordentlichen Mädchen” gefragt, im Zentraum der Lerninhalte stehen zu großen Teilen Männer und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist weiterhin ein stark vernachlässigtes Thema in den meisten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen.
Diese implizite und oft durch fehlende Reflexion unbewusst sanktionierte Vermittlung von Geschlechternormen hat jedoch konkret messbare, äußerst komplexe und lebenslange Auswirkungen auf alle Mitglieder unserer Gesellschaft – egal, ob sie sich innerhalb der vorgegebenen Parameter bewegen oder nicht. Kulturell spezifische und historisch gewachsene Normen erzeugen von klein auf ein Korsett, das ohne das nötige Bewusstsein für dessen Wirkungsweise konstant Ausgrenzungen, Unsichtbarkeiten und Druck erzeugt, sich an die als “natürlich” und “normal” wahrgenommenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern anzupassen.
Doch was bedeutet eigentlich “Normalität” und welche Ansprüche sollten wir als mündige Bürger*innen an die uns vermittelten Normen haben? Welche Möglichkeiten haben wir, aktiv darauf Einfluss zu nehmen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen?
Was möchte Queerdenken tun?
Mit “Queerdenken” möchte ich dazu beitragen, all diese Vorgänge und Prozesse mehr ins Bewusstsein sowohl von Kindern und Jugendlichen als auch von Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften zu holen. Kita, Schule, Universität, Ausbildung und Vereine als primäre Sozialisationsorte für Geschlechternormen sind hier nicht nur als Orte aufzuzeigen, in denen traditionelle Werte und Normen reproduziert werden, sondern in denen sie auch bewusst aufgebrochen werden können und sollten.
Gleichzeitig sollen die Workshops und Fortbildungen durch eine gezielte Auseinandersetzung mit Themen der Gender Studies und Pädagogik verhindern, dass sich Geschlechterbilder durch eine unreflektierte und allein auf Alltagswissen aufbauende Thematisierung sogar noch verfestigen. Ziel ist hier nicht nur ein heteronormativitätskritischer Ansatz, der vermeintliche “Normalität” und die damit verbundenen Machtstrukturen in unserer Gesellschaft offenlegt, sondern auch die Vermittlung von Vielfalt und Individualität als Bereicherung und gesellschaftlicher Realität.
Lehr- und pädagogische Fachkräfte sollen befähigt werden ihre alltägliche Praxis zu reflektieren, Lernende ihre Umgebung so früh wie möglich bewusster wahrzunehmen und zu respektieren. Es soll dazu angeregt werden proaktiv zu handeln und die Wahrnehmung für mögliche Problemzonen zu schulen anstatt erst zu handeln, wenn man mit konkreten Problemen konfrontiert ist. Damit sind die vermittelten Kompetenzen übertragbar in alle Lebensbereiche – denn wer einmal begonnen hat, die Muster hinter unserem Alltag zu erkennen, wird diese nicht mehr ungesehen machen können. Auf diese Weise werden alle Teilnehmenden hoffentlich in Zukunft als Multiplikator*in für eine wertschätzende Haltung gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt eintreten.

Warum "Queerdenken"?
Das Wort “queer” hat verschiedene Bedeutungen. Ursprünglich das englische Wort für “seltsam” und “merkwürdig”, wurde es bereits ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch als abfällige Bezeichnung für homosexuelle Personen benutzt. In den 1980er Jahren wurde jedoch begonnen, das Wort für die LGBTQIA*-Community neu zu belegen und zu “reclaimen”. Seitdem dient es meist als Selbstbezeichnung von Menschen, die nicht der sogenannten “Cis-Hetero-Norm” angehören (also sich nicht als heterosexuell oder mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren) und sich in keine konkrete Schublade einordnen wollen oder können. Gleichzeitig wird er als Sammelbegriff verwendet, der im Gegensatz zum Akronym LGBTQIA* niemanden durch eine fehlende Nennung ausschließen soll.
Das heisst natürlich nicht, dass “Queerdenken” darauf abzielt, alle Menschen dazu zu erziehen, sich nicht mehr als heterosexuell und cisgeschlechtlich zu identifizieren. “Queer” wird hier vielmehr im Sinne von Michael Warner als Verb verwendet: “We queer things when we resist ‘Regimes of the Normal’: The ‘Normative’ ideal of aspiring to be normal in identity, behaviour, appearance, relationships, etc.” (The Trouble with Normal, 1999).
In diesem Sinne hinterfragt ein queerer pädagogischer Ansatz, warum wir bestimmte Verhaltens- und Ausdrucksweisen überhaupt als “normal” für ein bestimmtes Geschlecht halten und zielt darauf ab, diese gesellschaftlichen Kategorien und Zuschreibungen aufzubrechen. Zu diesem Zweck werden unterliegende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse aufgedeckt und entgegen eines binären Geschlechtssystems, das von zwei klar voneinander abgegrenzten Geschlechtern ausgeht, die Vielfalt von Daseinsformen als wertvoll vermittelt. In einer Gesellschaft, in der Normalität in der Regel mit “richtig” und “falsch” assoziiert wird, möchte Queerdenken daran arbeiten, die damit automatisch entstehenden Ausschlüsse und Diskriminierungen zu erkennen und zu überdenken, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und aktiv an einer Gesellschaft zu arbeiten, die es jeder Person – unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung – ermöglicht, selbst zu bestimmen, wie sie ihr Leben führen möchte.
Queer denken ist damit im wahrsten Sinne des Wortes Programm.
Pädagogischer Ansatz

Als Bildungsprojekt bedient sich “Queerdenken” verschiedener pädagogischer Ansätze und wissenschaftlicher Theorien:
Gendersensible Pädagogik
Mit ihrer Nähe zu Empowerment-Ansätzen zur Stärkung der eigenen Identität, legt die gendersensible Pädagogik den Fokus auf die Förderung und Sichtbarmachung individueller Fähigkeiten und Potentiale. Auf diese Weise soll die freie Entwicklung von jungen Menschen gefördert werden, unabhängig von gesellschaftlich festgelegten Rollenerwartungen. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt zu hinterfragen, wie eine Thematisierung von Geschlecht als sozialer Kategorie gelingen kann, ohne durch deren “Dramatisierung” bereits vorhandene Stigmata und Vorurteile zu verfestigen.
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Vorurteilsbewusste Bildung zielt darauf ab, für die Ursachen, Funktionsweisen und Konsequenzen von Vorurteilen und darauf beruhender Diskriminierung zu sensibilisieren und auf diese Weise die pädagogische Praxis in Kindergärten und Schulen gerechter zu machen. Schon sehr früh nehmen Kinder Unterschiede zwischen Menschen wahr und lernen Unbehagen aufgrund dieser zu zeigen. Im Sinne der vorurteilsbewussten Erziehung sollen Lehrkräfte dafür ausgebildet werden, diese Vorgänge zu erkennen und ihnen durch eine klare Vermittlung von Werten und der Gestaltung einer positiven Lernumgebung aktiv entgegenzuwirken.
Pädagogik der vielfältigen Lebensweisen
Dieser pädagogische Ansatz legt den Fokus auf die Vermittlung von Vielfalt und Individualität als Reichtum. Jeder Mensch gestaltet sein Leben in einer für ihn eigenen Weise. Dies gilt es wahrzunehmen und zu respektieren. Queere Lebensweisen und Identitäten können auf diese Weise als Teil der ganz alltäglichen Vielfalt menschlichen Lebens und nicht lediglich als Abweichung von einer scheinbaren Norm eingeordnet werden. Als Teil einer demokratischen Grundhaltung soll vermittelt werden, dass alle Menschen in diesem Sinne gleichermaßen Wertschätzung und Entfaltungsmöglichkeiten verdient haben.
Antidiskriminierungspädagogik
Diskriminierung ist ein Problem, von dem alle Menschen in irgendeiner Weise betroffen sind – egal ob sie es wahrnehmen oder nicht. Das Ziel von Antidiskriminierungspädagogik ist es, diese verschiedenen Formen von Diskriminierung sichtbar zu machen und aktiv dabei zu helfen, sie abzubauen. In diesem Sinne beschäftigt sie sich mit gesellschaftlichen Machtstrukturen und der Frage, wie man im Bildungskontext für mehr Akzeptanz, Respekt, Chancen- und Teilhabegerechtigkeit herstellen kann.
Intersektionalität
Unter “Intersektionalität” versteht man die Verschränkung verschiedener gesellschaftlicher Strukturkategorien, die in ihrem Zusammenwirken auf verschiedene Art und Weise Ungleichheit begünstigen. Intersektionale Ansätze analysieren gesellschaftliche Machtverhältnisse auf diese Wechselwirkungen hin und zeigen, wie Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung oder Religion in verschiedenen Konstellationen ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die betroffenen Personen haben können. Betont wird auf diese Weise auch, dass keine Person auf eine einzige Identitätskategorie reduziert werden kann – jede*r ist stets in eine Vielzahl von gesellschaftlichen Kontexten eingebunden, die ganz unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Anforderungen an die Person stellen. Sich dessen bewusst zu werden, macht es einfacher einseitige Definitionen und Argumentationen sowie den eigenen Blickwinkel in seiner spezifischen Standortgebundenheit zu hinterfragen.
Es handelt sich in allen Workshops in erster Linie um Sensibilisierungs- und Antidiskriminierungsarbeit. Bei Fragen zu Sexualität werden diese sachlich, altersangemessen und zielgruppengerecht beantwortet.
Zum Weiterlesen
Juliette Weidl & Annette Bartsch (Hg.): Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung, Bielefeld 2015.
Barbara Rentdorff, Elke Kleinau & Birgit Riegraf: Bildung – Geschlecht – Gesellschaft. Eine Einführung, Weinheim/Basel 2016.
Sven Ernstson & Christine Meyer (Hg.): Praxis geschlechtersensibler und interkultureller Bildung, Wiesbaden 2013.
Bettina Lösch, Margit Rodrian-Pfennig & Madeline Doneit (Hg.): Geschlecht ist politisch. Geschlechterreflexive Perspektiven in der politischen Bildung, Opladen/Berlin/Toronto 2016.
Debus, Katharina & Vivien Laumann (Hg.): Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt. Zwischen Sensibiliserung und Empowerment, Berlin 2018, https://interventionen.dissens.de/fileadmin/Interventionen/redakteure/Dissens_-_P%C3%A4dagogikGeschlechtlicheAmour%C3%B6seSexuelleVielfalt.pdf
Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. (Hg.): Dieses Genderdings. Grundlagen zu Geschlecht, Familie, Sexualität und Liebe. Eine pädagogische Handreichung, Berlin, https://www.dissens.de/fileadmin/social_media_interventions/Brosch%C3%BCren/Handreichung_Dieses_Genderdings_web_neu.pdf
Zahlreiche Materialien bei Queerformat. Fachstelle Queere Bildung, www.queerformat.de
Eine ausführliche, regelmäßig aktualisierte und nach Themen sortierte Liste mit Ressourcen finden Sie demnächst hier.