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Rezensionen

Nichts hat mir in meinem Leben so viel gegeben wie Literatur. Ich lese seit ich denken kann immer und überall, egal ob Sachbücher, Romane oder die Inhalte meiner aktuellen Marmelade. Lesen ist die eine Sache, die ich immer tun kann. Lesen zeigt mir immer wieder neue Perspektiven und Lebenswelten und lässt mich diese Welt ein kleines bisschen besser verstehen. Und das möchte ich hier gern mit Euch teilen.

Ich lese wenig "Kanon", sondern bastele mir da lieber einen eigenen aus queeren, be_hinderten oder neurodiversen Personen, BIPOC und Frauen. Ich liebe es ständig neue Dinge auszuprobieren und nicht immer nur das wiederzukäuen, was sowieso seit Jahrhunderten und Jahrzehnten da war und als normativ galt. Ich liebe neben Belletristik und Gedichten, Memoirs und Sachbüchern immer noch Fantasy und Science-Fiction, Young Adult und Kinderbücher, Graphic Novels, Comics und Mangas. Ich lese regelmäßig ungefähr 10 Bücher gleichzeitig, weil ich nie weiß, auf was ich gerade am meisten Lust habe. Ich fange 1000 Bücher an und lese sie manchmal drei Jahre später fertig und manchmal auch nicht. Und ich gebe all das unglaublich gern an andere Personen weiter.

Vielleicht ist ja für Euch auch was dabei.

Xiran Jay Zhao: Iron Widow

"Too bad. I am exactly the kind of ice-blooded, rotten-hearted girl he fears I am. 
And I am fine with that.
May he stay unsettled."


CN: (sexualisierte) Gewalt, patriarchale Unterdrückung, Suizidgedanken


Rezension Nummer 1. Ich bin ein bisschen aufgeregt und war mir lange sehr unsicher mit welchem Buch ich dieses neue Projekt anfangen sollte, das mir persönlich so unglaublich viel bedeutet.

Dann habe ich am Wochenende “Iron Widow” von Xiran Jay Zhao fertig gelesen und es tut mir leid für alle von Euch, die mit einem englisch-sprachigen Young Adult Roman über gigantische mechas (dict.cc sagt gerade “pilotierte Laufroboter”), orientiert an chinesischer Kultur und der einzigen chinesischen Kaiserin Wu Zetian mit einem sehr starken anti-patriarchalischem Narrativ nichts anfangen können, aber ich komme leider einfach nicht darum herum es ab jetzt so vielen Leuten wie möglich zu empfehlen. Mein queeres, feministisches und super-nerdiges Herz hat einfach zu hoch geschlagen beim Lesen.

Tatsächlich haben sich ziemlich zeitgleich sowohl mein YouTube- als auch mein Kindlealgorithmus gedacht, dass Xiran Jay Zhao wohl meinen Interessen entsprechen könnte. Und so bin ich erstmal an ihren unglaublich detaillierten und informativen Videoessays hängen geblieben. Falls ihr Euch jemals gefragt habt, wie authentisch der originale “Mulan”-Film (oder eine beliebige der späteren Versionen) eigentlich war, then look no further.

Umso beeindruckter war ich dann davon, dass sie für ihr literarisches Debut genau diese kulturelle Spezifizität und dieses Level an Hintergrundwissen mitnahm und daraus eine absolut mitreißende, dynamische und emotionale Geschichte spann. Es geht um eine post-apokalyptische Welt, in der mecha-ähnliche Aliens, die man sonst vor allem in Animes erwarten würde, große Teile des Planeten beherrschen und in der die Menschen mit ähnlichen mechas, den sogenannten chrysalises, versuchen ihre Stellung zu halten. Ein scheinbar ewiger Krieg um Lebensraum.

Die Crux an der Sache: Jede chrysalis benötigt zwei Personen als Pilot*innen. Eine Frau, einen Mann. Ein System, das manche Anime-Fans vielleicht aus Darling in the FRANXX kennen und das tatsächlich genau hier seine Inspiration fand - und bei Zhao das Bedürfnis nach einer komplexeren Version des Ganzen weckte. So benutzt sie diese Grundlage dazu, um von einer brutal patriarchalen Gesellschaft zu erzählen, die sehr klar in der realen Dystopie unserer jetzigen und früherer Gesellschaften - speziell der chinesischen Gesellschaft - verankert ist. Während männliche Piloten als Stars gefeiert werden, ist es eher selten, dass das weibliche Gegenstück im Pilotinnensitz auch nur einen einzigen Angriff überlebt. Junge Mädchen werden an Piloten verkauft, um die Brautpreise der Söhne bezahlen zu können und die Erwartungen an diese sogenannten Konkubinen betreffen nicht nur die Begleitung der Piloten im Cockpit. Es ist eine düstere und brutale Welt und ganz in diesem Sinne bietet sich die Protagonistin Wu Zetian zu Beginn in einem Racheplot freiwillig dem Mörder ihrer Schwester, einem der besten chrysalis-Piloten, als neue Konkubine an. Sie erwartet nicht, den geplanten Mord zu überleben - und hat wenig, das sie an ihrem bisherigen Leben hält.


"How do you take the fight out of half the population and render them willing slaves? 
You tell them they’re meant to do nothing but serve from the minute they’re born.
You tell them they’re weak. You them they’re prey.
You tell them over and over, until it’s the only truth they’re capable of living."


Was dann folgt ist eine zunächst erwartbare Erzählung: Tatsächlich übersteigt ihr spirit pressure, die Voraussetzung eine chrysalis zu steuern, den ihres Mordopfers bei weitem und sie kann nicht mehr ohne weiteres von der Bildfläche verschwinden. Sie ist auf einmal interessant für das System, dem sie mit ihrem neu erwachten Überlebenswillen und oft alles andere als freundlichen Methoden immer wieder neue Zugeständnisse abringt. So weit, so offensichtlich.

In vielerlei Hinsicht sind es dann aber die beiden männlichen Protagonisten, mit denen sich von Beginn an eine Dreiecksbeziehung anbahnt, die mit ihren unterschiedlichen Männlichkeitskonzeptionen die komplexeren Charaktere darstellen als Wu Zetian selbst. Und nicht nur das. Xiran Jay Zhao setzt endlich das um, was ich mir seit Jahren bei jedem einzelnen nervigen love triangle denke: Das ganze Konzept wäre einfach so viel interessanter, wenn sowohl Queerness als auch Polyamorie eine Möglichkeit darstellen. Mit einer Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit, die mir bei der oft fast erzwungen wirkenden Repräsentation der letzten Jahre oft fehlt, beschreibt sie die Komplexitäten zwischenmenschlicher Kommunikation im Versuch die von Besitzansprüchen und Unterdrückung geprägten Muster normativer Beziehungsformen zu durchbrechen und eine andere Art des Zusammenlebens zu denken.


“Besides, don’t you know basic geometry, Strategist Sima? [...] 
A tringle is the strongest shape.”


Allein diese Tatsache macht, dass ich ihr sogar verzeihen kann, dass die Idee des gegengeschlechtlichen Pilot*innensystems mal wieder von einem binären Geschlechtersystem ausgeht, was im Anbetracht der mühelosen Queerness und kulturellen Situiertheit des Buches fast anachronistisch wirkt. Hier bleibt zu hoffen, dass für die zukünftigen Teile auch hier konsequent weiter das ausgebaut wird, was Zhao im Laufe des Buches auf allen Ebenen so unglaublich gut macht: Erwartungen zu unterwandern, Tropen aufzubrechen - oder konsequent zu Ende zu denken - und das Ganze dann auch noch in eine wirklich packende Geschichte zu verpacken. Ich wünschte auf jeden Fall mittlerweile, dass ich es nicht nur als E-Book, sondern auch ordentlich in meinem Regal stehen hätte, damit ich es regelmäßig anderen Leuten in die Hand drücken kann.

Zu beachten ist vor einer Lektüre aber auf jeden Fall: Das Ganze ist auf jeden Fall harte Kost. Auch wenn viele Darstellungen nicht so grafisch sind, wie sie es in einem Nicht-Jugendbuch vielleicht wären, thematisiert Zhao immer wieder die gesellschaftliche, körperliche und sexuelle Ausnutzung insbesondere von Frauen, schreckt hier aber auch vor der Darstellung der Folgen eines solchen Systemes für männliche Personen nicht zurück. Wenn ein Hunger Games-Level an Gewalt nichts für Euch ist, dann ist es vielleicht auch dieses Buch nicht.

Zum Abschluss vielleicht noch für alle, die hierbei neugierig geworden sind, für die Englisch aber keine Option ist: Xiran Jay Zhao hat in einem Video im Dezember 2021 erwähnt, dass die deutschen Übersetzungsrechte verkauft sind - mehr wollte Google dazu allerdings nicht hergeben. Es ist also nur eine Frage der Zeit. Sobald ich mehr weiß, lasse ich es Euch auf jeden Fall wissen.


"That kind of guy, they called him. 
That kind of girl, they called me. Well.
Here we are. Meeting expectations."